Vergessener Poet aus einer anderen Zeit
- wortbeat
- 5. Nov. 2019
- 4 Min. Lesezeit
Lied ohne Worte
Lied ohne Worte ist der Titel meines absoluten Lieblingsgedichtes, bei dem ich auch nach zwanzig Jahren immer noch eine Gänsehaut kriege, wenn ich es lese oder rezitiert bekomme. Geschrieben hat es ein rumänischer Poet in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, der anscheinend alles versuchte, um nicht zu bekannt zu werden. Im Internet lassen sich keine deutschsprachigen Informationen zu seiner Person und seinem Schaffen in Erfahrung bringen. Das schien mir auch nicht besonders verwunderlich, da es zu seiner Zeit noch kein Internet gab. Auch wurde er nicht gerade weltberühmt und bei all seinen Namen, dazu gleich mehr, wurde die Spurensuche definitiv erschwert. Erst folgte ich der falschen Fährte eines rumänischen Musikwissenschaftlers, der auch als Journalist unzähliger Artikel und Herausgeber von Magazinen tätig war. Nachdem ich diesen Irrtum bemerkte und meine Suche neu justierte, kam ich ihm langsam auf die Schliche und fand einen Eintrag in französischer Sprache bei Wikipedia, der die Identität sowie eine Übersicht des Oeuvres meines gesuchten Poeten preisgab. Bei meiner Suche musste ich feststellen, wie unterschiedlich die eine oder andere Internet-Suchmaschine sucht und vor Allem findet. Das Lied ohne Worte habe ich allerdings noch keiner seiner Veröffentlichungen zuordnen können.

Eine deutsche Ausgabe seiner Gedichte ist partout nicht zu finden. Jahrelang hatte ich diesbezüglich überhaupt keine Informationen auftreiben können, da ich nach einem Poeten namens Mihail Cosma suchte, wie auch der erwähnte Musikwissenschaftler hieß. Da dieser Name aber nur ein Pseudonym bei seinen ersten veröffentlichten Texten war, ist die vergebliche Suche auch nicht sonderlich überraschend. Zumal Cosma in Rumänien auch noch ein sehr häufiger Familien- und Vorname ist. Aber damit nicht genug, ist Claude Sernet, sein Name, mit dem ich ihn im Internet fand, auch nicht sein richtiger Name. Diesen Namen hat er Ende der 1920er Jahre angenommen, nachdem er von Rumänien über Italien nach Paris übersiedelte, um sich in den dortigen Künstlerkreisen (noch) einen Namen zu machen. Geboren wurde er als Ernest Spirt (deutsch: Spiritus) am 24. Mai 1902 in Bacáu im Osten Rumäniens. Da er jüdischer Abstammung war, hatte er schon früh gegen Antisemitismus zu kämpfen. Während des Ersten Weltkrieges wurden er und seine Schwester von ihrer Familie getrennt. Mit 18 Jahren begann er sein Jurastudium in Bukarest, dass er in Pavie in Italien abschloss.
Sein französischer Familienname Sernet ist ein Anagramm seines eigentlichen Vornamen Ernest. In Paris lebend hatte er unter seinem Pseudonym Mihail Cosma erste Veröffentlichungen in Zeitschriften. Dann wurde Sernet selbst Herausgeber einer Zeitschrift und einiger Broschüren, bevor er erste Gedichtbände veröffentlichte. Seine umfangreichen Kontakte in Künstlerkreise u.a. zu den Dadaisten um Tristan Tzara ließen ihn seinen literarischen Traum leben. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er 1939 in die französische Armee einberufen, 1940 geriet er in deutsche Gefangenschaft, aus der ihm 1941 die Flucht gelang. Nach dem Krieg schloss er sich der KP Frankreichs an. Ernest Spirt alias Mihail Cosma alias Claude Sernet ist am 15. März 1968 nach einem bewegten Leben in Paris gestorben.
Entnommen habe ich die Zeilen seines Gedichtes Lied ohne Worte akustisch der Radiosendung Grenzpunkt Null, einst bei MDR-Sputnik über UKW zu hören, das heißt Ultrakurzwelle, später via Satellit, wie auch immer, dann wieder über UKW bei Radio F.R.E.I. aus Erfurt und heute bei Reboot.fm einem Internetradio, mit Downloadrate, wobei ich nicht weiß, was das heißt. Die akustischen Signale habe ich analog niedergeschrieben, manuell mit meiner Hand, da eine Mitschrift auf Papier nicht erhältlich erschien. Dem Moderator der Sendung Rex Joswig sei Dank, der dieses Gedicht in vielen seiner Sendungen meisterlich rezitierte. Da ich bezüglich der Zeilenumbrüche und Intonation nicht involviert wurde, gebe ich unter partieller Missachtung der Groß- und Kleinschreibung und unter vollständiger Missachtung der Kommasetzung, dieses Gedicht hier zum Besten.
Lied ohne Worte
vom Himmel kamen
wie Vögel mit zinnernen Flügeln
erleuchtete Automobile
auf den Motoren
seerosenelektrischen Stroms
landeten sie auf prunkvollen Straßen
zwischen Kanistern mit Tinte
zwischen Wagen von Blättern
zwischen Schaufenstern
die in offenen tropischen Herzen saßen
welch eine Nacht
die Wasser stiegen zum Himmel auf
und Damen mit goldenen Augen
mit Dämmerungswaden
und Jaguarbrüsten
blickten in Pfützen
Paradise aus Spiegeln
blickten in Pfützen
wie durch Negative
verloren sich dann
mit ihren Limousinen
unter den Sternen
weißt Du es noch
wie rasend wir uns durch vertikale Städte fraßen
und über tausende von Trottoiren glitten
den Mond im Rücken
gewunden wie eine rote Katze um den Zaun
während der Wind sich durch die Drähte
die gleichen Noten der Empörung pfiff
den gleichen Wahnsinn
der in Millionen Schädeln hauste
du sagtest damals
wie erstaunlich
die Morgenröten schmelzen in den Pflanzen hin
in Glashäusern erblühen neue Zivilisationen
und dass du Aragon lesend verenden willst
dann aber
du schautest tief ins Dunkel
wie in eine Grube
und schwandst unter dem Regen hin
Wald aus Chinin
spät auf den Boulevards
schlüpften die Vorstädte durch die Bäume
endlose Lava war in allen Blättern
und so viel Dynamit in Knospen und im Fleisch
das von dem Kreuz die Wächter
zwischen Brotplakaten wegzogen
mit dem Regen in den Tod
und Elend ging durch alle Gassen
wie eine zweite Flut aus Blut
nur wir spuckten den Straßenbahnen ins Gesicht
den Straßenbahnen mit den Streichholzherzen
sie drangen unter tausenden von Armen in die Parks ein
es weinten damals in den Blumen
Schreibmaschinen
die Mikrofone stöhnten unter Furchen
und wachsen hörte man die Abendzeitungen im Gras
weißt du es noch
am nächsten Tag
umarmten wir die Freiheit
wie eine Frau.
Ende. Wow. Gänsehaut. Amen.
Das Lesen des französischen Originaltextes könnte durchaus einen la petite mort zur Folge haben.J
TK
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