Großmütter
- wortbeat
- 24. Okt. 2019
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Mai 2020
Meine 1907 geborene Großmutter bekam 1926 ihr erstes Kind im Alter von 19 Jahren und 1944 ihr letztes Kind mit 37 Jahren. Dazwischen hat sie acht weitere Kinder zur Welt gebracht, fünf Mädchen und fünf Jungen. Sie hat es geschafft alle zehn Kinder durch den Zweiten Weltkrieg zu bringen. Mein Großvater war in dieser Zeit entweder arbeiten, Fußball spielen oder im Krieg, die Erziehung der Kinder oblag allein ihr. Ältere Geschwister mussten ihr nicht wenig zur Hand gehen, kein Vergleich mehr zur heutigen Zeit, um ihre Mutter zu unterstützen. Aus meiner Sicht grenzt es an ein Wunder, dass alle zehn Kinder diesen Krieg unbeschadet überstanden haben, in einer Zeit der Nahrungsknappheit, Hungersnöte, Krankheiten und des Kriegstreibens. Sie war eine außergewöhnlich starke Frau, mit einer sehr lauten Stimme, die bei der Anzahl von Kindern, später auch Enkeln und Urenkeln, sicherlich auch von Nöten war. Durch ihren streng evangelischen Glauben schien sie stark, mit höheren Kräften in Verbindung gestanden zu haben. Allerdings wurde sie durch den Bau der Berliner Mauer 1961 trotzdem von drei ihrer Kinder für den Rest ihres Lebens getrennt, als Rentnerin durfte sie aber in die Bundesrepublik einreisen, die Wiedervereinigung erlebte sie nicht mehr. Meine Großmutter starb 1989 kurz vor dem Mauerfall, vier Jahre nach ihrem Mann, mit dem sie noch die Diamantene Hochzeit feierte!

Obwohl sie die Kriegszeiten unbeschadet mit ihrer Familie überstand, musste sie zu ihren Lebzeiten und in Friedenszeiten, trotz all dem Glück in ihrem Leben, den tragischen Verlust eines ihrer Kinder, Siegfried, ihrem Drittgeborenen, betrauern. Es war der Sommer 1949 kurz vor Gründung der DDR und der BRD. Er stand am Straßenrand und sollte nach dem Nachbarsjungen Ausschau halten, der noch nicht von der Schule nach Hause gekommen war. Mit seinen 20 Jahren half Siegfried in der Landwirtschaft, er war ein einfacher Bursche. Während der Zeit des Faschismus hat Siegfried es geschafft, aus einer Anstalt bei Arnstadt zu fliehen, in die man ihn zwangseingeliefert hatte, da er in den Augen der Nazis als zurückgeblieben galt. Er lief die 20 Kilometer durch den Wald zu Fuß nach Hause.

Wie viele Automobile an diesem Tag durch den fünfhundert Seelenort fuhren weiß ich nicht, vielleicht war es das Einzige. Es kam über den Hügel gerollt und er beobachtete es sicherlich mit großem Interesse, denn ein Auto war zu dieser Zeit noch etwas Besonderes. Auf einmal fuhr es immer schneller, es kam von der Fahrbahn ab und fuhr geradewegs auf ihn zu. Er hatte keine Chance auszuweichen und das Auto überrollte seine Beine. Später stellte sich heraus, dass der Fahrer, ein älterer Herr, einen tödlichen Herzinfarkt hatte. Der Unfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Der Krankenwagen brachte ihn ins Krankenhaus, seine Überlebenschancen waren gleich null. Er fragte nur nach seinem Papa, meinem Großvater. Meine Mutter, gerade zehn Jahre alt, wurde in den Wald geschickt, um meinen Großvater, der als Holzfäller arbeitete, zu holen. Als sie im Krankenhaus ankamen und er bei ihm war, strahlte Siegfried übers ganze Gesicht und starb in den Armen seines Papas mit einem Lächeln.

Meine Großeltern durften 22 Enkelkinder begrüßen und zu ihren Lebzeiten auch noch fünf Urenkelkinder. Vier ihrer Kinder leben heute noch. Mit 93 Jahren die älteste, die es auf unglaubliche 75 Ehejahre, die Kronjuwelenhochzeit (!!!) genannt, brachte, und die drei jüngsten Schwestern, zwischen 75 und 80, leben 2019 noch immer im Kreis ihrer Familien mit all den Enkelkindern, Urenkelkindern und Ururenkelkindern meiner Großeltern. Meine Mutter ist die drittjüngste, mittlerweile aber auch die zweitälteste der verbliebenen vier Schwestern, und Urgroßmutter.
Comments